Die Unvollkommenheit einer perfekten Kugel
Mein Dozent hat mal in unserer Gruppe eine Geschichte erzählt. Es ging um eine Kugel, die perfekt sein soll; sie besteht aus hochreinem Silizium, hat einen Durchmesser von etwa zehn Zentimetern und eine maximale Rauheit von unter einem Nanometer (Millionstel Millimeter). Mit bloßen Augen ist diese Rauheit nicht zu erkennen. Dennoch, auch sie ist nicht perfekt.
Psychotherapie und die Grenzen der Perfektion
In der heutigen Welt, in der psychologische Gesundheit in der Gesellschaft und in sozialen Netzwerken immer mehr Aufmerksamkeit erfährt, scheint es, als ob viele Menschen glauben, sie könnten mit Hilfe der Psychotherapie jedes Detail ihres Lebens durchleuchten und sich so zu einem vollkommen erleuchteten Wesen entwickeln. Zugegeben, vieles kann verbessert werden, doch manche tief sitzenden Traumata und psychische Probleme entziehen sich oft einer psychotherapeutischen Lösung.
Beispiele der Unvollkommenheit und Heilung
Ich habe zu dem Thema bereits einige Bücher gelesen. Am meisten ist mir das Buch von Edith Eva Eger, einer Holocaust-Überlebenden und späteren Psychologin, die sich auf die Therapie der posttraumatischen Belastungsstörungen spezialisiert und viel mit Kriegsveteranen gearbeitet hat, in Erinnerung geblieben. Sie schildert in ihrem Buch “Das Geschenk”, wie sie immer noch von Bildern aus dem Konzentrationslager und Schuldgefühlen heimgesucht wird. Sie illustriert, dass einige Wunden niemals vollständig heilen, aber man kann lernen, damit zu leben und sogar ein erfülltes Leben zu führen.
Kintsugi: Schönheit in der Unvollkommenheit
Ein weiteres Beispiel ist Kintsugi, die japanische Kunst der Goldreparatur, die den Makel betont. Diese Reparaturmethode für Keramik, bei der Bruchstücke mit speziellem Lack geklebt und fehlende Teile mit Gold- oder Metallpulver-Kitt ersetzt werden, zeigt, wie aus Makeln Schönheit entstehen kann. Diese Objekte sind einzigartig und wunderschön, obwohl sie aus Scherben zusammengesetzt sind. Sie lehren uns, mit unseren „Lebensschrammen“ umzugehen und sie zu akzeptieren. Wir Menschen sind keine Objekte, die „repariert“ werden müssen; ich finde einfach, dass dies eine schöne Metapher ist und etwas Optimismus in das Thema bringen kann.
Moderne Therapiemethoden zur Traumabehandlung
Die Metapher der Kintsugi-Kunst spiegelt sich auch in verschiedenen therapeutischen Ansätzen wider, die uns helfen, unsere psychischen Narben zu akzeptieren und zu verarbeiten. Zum Beispiel fördert die kognitive Verarbeitungstherapie, eine wissenschaftlich belegte Behandlung, die Neuformulierung der mit dem Trauma verbundenen mentalen Schemata. Ihr Ziel ist es, die Person zu befähigen, die traumatische Erfahrung mit einem geringeren Leidensdruck zu integrieren und eine gesündere Sicht auf sich selbst und die Welt zu entwickeln. Ähnlich unterstützt die EMDR-Therapie (Augenbewegungstherapie), entwickelt von Francine Shapiro, die Verarbeitung des Geschehenen durch Augenbewegung oder bilaterale Stimulation, um den emotionalen Schmerz zu lindern. Dabei werden Emotionen, Erinnerungen und Bilder wachgerufen, die der Patient mit Unterstützung des Therapeuten integriert. Nicht zuletzt spielen somatische Therapien, wie das Somatic Experiencing von Dr. Peter Levine, eine wichtige Rolle. Sie gehen davon aus, dass unverarbeitete schmerzhafte Erfahrungen zu Dysfunktionen im Nervensystem führen können, was Symptome wie ständiger Alarmbereitschaft, der Verarbeitung von allem als Bedrohung, Schlaflosigkeit, Konzentrationsproblemen und emotionaler Dysregulation nach sich zieht.
Einblick in weitere therapeutische Methoden
Es gibt noch weitere therapeutische Methoden, dieser Beitrag zielt darauf ab, einen kurzen Überblick über einige der bedeutendsten zu geben.
Die Wichtigkeit, das Unvollkommene zu akzeptieren
In diesem Beitrag möchte ich betonen, wie essenziell es ist, auch die Grenzen der psychischen Heilung zu erkennen und zu lernen, das Beste aus dem Unvollkommenen zu machen. Es geht darum, sich selbst zu akzeptieren, auch wenn man nicht das angestrebte „Ideal“ erreicht, und die Realität zu akzeptieren, dass einige Narben ein Leben lang bleiben, was jedoch ein glückliches und erfülltes Leben nicht ausschließt. Es ist wichtig, unsere Erwartungen anzupassen und das Unvollkommene als Teil unseres einzigartigen Selbst zu sehen.
Teilen Sie Ihre Erfahrungen
Ich möchte Sie ermutigen, Ihre Gedanken und Erfahrungen in den Kommentaren zu teilen. Haben Sie gelernt, mit Unvollkommenheiten zu leben? Welche Herausforderungen mussten Sie meistern, um zu diesem Punkt zu gelangen?
Eure Oksana Pollinger
Heilpraktikerin für Psychotherapie, psychologische Beraterin und Coach